Ansatzweise

Der frühe Vogel ruft und ich denke, man ist so alt, wie man sich fühlt. 
Ich brauche nichts, küsse aber den Frosch, decke den Tisch, lese den Kaffeesatz wie die Zeitung und verstehe nur Bahnhof, gehe im Schneckentempo durch den Tag, denn eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. 
 Ich lasse die Fünf heute gerade sein, warte auf den Bus und frage mich wieso, rede mich um Kopf und Kragen, rufe laut, erst B dann A und lass den Mantelknopf auf, suche mal wieder die Nadel im Heuhaufen, packe den Rucksack ins Schließfach und weiß nicht wohin mit meinem Hab und Gut. 
 Ich übe die freie Rede, fall aus den Wolken und lande auf dem Boden der Tatsachen, schreibe weiß auf schwarz, kneif mich in den Arm und höre dem Kirchenchor zu, nehme ein U mehr als nur ein X, habe noch ein As im Ärmel und lache über meine Dummheit. 
 Dann folge ich dem weißen Kaninchen und suche Alice, aber sehe den Wald vor Bäumen nicht, setze mich in die Nesseln wie an den Strand, sehe den Wellen zu, da rieselt der Plan durch meine Finger. 
 Ich kaufe ein Eis, die Möwe schreit und ich wünsche ihr, guten Appetit, höre die Spatzen vom Dach pfeifen, schick die Mail zum Teufel und räum meine Tassen wieder in den Schrank. Morgen wasche ich schmutzige Wäsche, bezieh die Betten neu und schreibe dem Christkind, trete dabei auf der Stelle, werfe den Teebeutel an die Decke, das schont meine Nerven. 
 Oft habe ich keinen Mut, wie kein Geld, bin mal besorgt, mal vergnügt, säe Blumen auf das Grab, gieße seine Erde, denn die Toten öffnen uns die Augen. 
Ich wünsche jedem das, was man mir wünscht, guck in den Himmel und zünde eine Kerze an, zähle noch die Schäfchen, halte den Mund zu, die Augen auf, die Gedanken wach. Ich zieh die Bettdecke über den Kopf, heute war es ansatzweise gut! 

(C) Maria Lange-Otto

Bergwerk

Da ist diese Sache, die ich tun muss, 

immer wieder aufgeschoben wartet sie auf mich. 

Heute ist es soweit, ich beende diese Sache. 

 

Früher Morgen, Nachtkälte kriecht durchs Haus, 
aufstehen, duschen, anziehen, Jeans, Pulli. 
Ich brauche keinen Spiegel, aber feste Schuhe. 

In der Küche koche ich Kaffee, fülle die Thermoskanne, 

packe den Rucksack. Alles fertig, ich sehe zur Uhr. 

Es ist Zeit. Ich fühle mich nicht gut, doch ich verlasse 
das Haus, mache mich auf in den Tag, der dieser Sache gewidmet ist. 

Die Arbeit wird nicht leicht und der Tag wird lang. 

Früh am Morgen, nicht viel Verkehr, 

meine müden Augen achten auf Ampelanzeigen und Busspur. 

Ich meide die Aufmerksamkeit der Autobahn, folge den Nebenstraßen, 

fahre über Land, ich kenne den Weg. 

Das Autoradio bleibt stumm, ich sammel Ruhe für die Kraft, 
die ich später brauche. Die Kälte in mir will nicht weichen,
und die Frage ist mein Beifahrer.
 

Wie war das damals, als wir zusammenkamen? 

Da war dieses Ereignis. Aus heiterem Himmel passiert, 
rief es dich laut zu mir her.  Aus Entfernung wurde Nähe, 
wir fanden zusammen, gingen gemeinsam, 
arrangierten die Stunden. Zeitweise, das muss ich zugeben, 
hast du mir gutgetan, ein Geist, ein Auftreten. 
Fast schützend umgabst du mich, führtest mir Hand 
und Fuß durch schwere Tage.   

Du sorgtest für meinen Abstand zu den Dingen, die geschehen waren. 

 

Ich bin da, ich steige aus, folge dem schilderlosen Weg zum Eingang. 

Ich tu mich schwer, langsamer als sonst sind meine Schritte. 

Durch das große Tor, den kleinen Pfad weiter, angekommen.                      

Ich steige ein, steige hinab ins Bergwerk. 

Das Tageslicht geht nicht mit, stattdessen fahles Lampenlicht,
Markierungen geben geführte Sicherheit. 

Ich habe sie selber angelegt, ich war schon einmal hier. 

Nein, ich will ehrlich sein, ich war schon öfter hier, war hier, 

es zum Ende zu bringen, doch der Mut verließ mich 
und ließ mich mutlos wieder gehen. 

Nicht weit vom Eingang kein Tagesgeräusch, drückende Stille, 
abgestandene Luft, schroffe Wände. Der unebene Weg wird zum 
abschüssigen Pfad. Mit suchenden Schritten in gebückter Haltung 
und der Last auf dem Rücken, endlich, 
hier geht es nicht weiter,  hier bin ich am Ziel.      

Wieder aufrecht stehe ich in einem kleinen Raum, sackgassengleich.  
In der Mitte des Raumes, ein Holzklotz zum Hocker behauen, 
ein paar Steine zum Kreis gelegt, sie begrenzen eine Grube, 
Spaten und Schaufel liegen daneben. 

Hier wird es enden.

Hier habe ich ein Grab geschaufelt, geschaufelt mit den Zeiten 
meiner Hände, mit dem Leben meiner Jahre. 

Heute bring ich die Sache zu Ende und mein Herz schlägt unruhig laut. 

Ich öffne meinen Rucksack, da liegt er, ich nehme ihn heraus, 
halte kurz inne, sehe ihn nochmals an, danke ihm für sein Dasein 
in der Zeit, drei Tränen laufen. Ich verabschiede mich von ihm. 

Wir beide wissen, es wird kein Wiedersehen geben. 
Ohne Schmerzen freundlich lege ich ihn ins Grab, decke das Tuch 
der Erinnerung über ihn, lege einen Stein meines Hauses auf, 
der Lichtschein zeigt seine rotgemeißelte Gravur:  
Du warst ein Teil meines Lebens! 

Eine Weile bleibe ich noch, halte Totenwache einen Becher lang, 
der Kaffee belebt, die Stille wirkt, die Kälte weicht, das Überlaufventil meiner Anstrengung trocknet und mein Herz beruhigt sich im Takt. 

 

Dann ist es Zeit, wieder aufwärts, den Rucksack geschultert, 
das Licht vorneweg, folge ich dem Pfad und dem Weg aus dem 
Bergwerk, nehme unterwegs die Markierungen ab. 
Wieder im Tageslicht bleiben sie am Eingang liegen, 
vielleicht braucht sie bald ein anderer. 

Ich gehe und verlasse den Ort, drehe mich nicht mehr um. 

Ich fahre heim, das Autoradio bleibt stumm, 

jetzt ist die Antwort mein Beifahrer.

Es ist gut, wenn du es gut sein lässt und
so lasse ich den alten Gedanken gut sein, 
ich habe es geschafft. Ich habe ihn beerdigt, 

den Gedanken, der eng und ängstlich mich lange Zeit festhielt, 

den Gedanken, der klein und kleinlich mir geworden war, 

den alten Gedanken, dem ich morgen meine neue Freiheit verdanke. 

So ist es gut. 

Es ist spät geworden, es dunkelt, als ich zuhause ankomme. 

Ich gehe ins Haus, schließe die Tür, stelle den Rucksack ab, 

der Tag war lang , die Arbeit ist getan. 

 

 (C) Maria Lange-Otto

Bin da, wer noch?

Annehmen, was mir zufiel, als ich fiel. 
Tage, die mir gute Tage wünschen,

beruhigen die Gedanken im Alltäglichen.

Hand und Gefühl stehen auf festem Grund, 
Herz und Geist bauen auf Gottes guten Willen.

Im Hin und Her des Alltags bleibt ein Stück Unwägbarkeit.

Deshalb die bleibenden Tage leben und dankbar sein.

Ich bin angekommen in dem Leben, das ich leben darf.

Es wäre schön, wenn das so bliebe.

(c) Maria Lange-Otto

Finden

Noch vor Abenddämmerung sind Pfadsuchende unterwegs. Den Fuß hebend die eine, dient die andere sich zur Hilfe an, ein Wegsteinchen liegt quer, wird beiseitegelegt, nicht so ihrer beider Unterhaltung. Mit Fragen im Blick gelangen sie zum Ort der Kleinsten im Land, doch der Zugang ins umzingelte Gelände ist ihnen verwehrt. Eine Dritte, eine Vierte mit Lautmalereien und Erhebungszeichen lässt armwedelnd einladende Freude erkennen. 
Die Pfadgefundenen nähern sich, weitere finden sich ein, alle sammeln sich, erwarten die Toröffnung zur verabredeten Stunde. Beladen mit Decken, Stift und Papier, bringen sie Lachen, Gläser und Wein, sitzen bald gleichsam unter offenem Himmel mit weiten Herzen, werden zum Kreis derer, die, eine Woche zuvor, sich im Land der Kleinsten wiedergefunden hatten.


(c) Maria Lange-Otto