Vielleicht
begann es, als die Sonne sich verzog, der Sturm mit voller Wucht ums Haus zog, der Regen an die Fenster klatschte. Vielleicht begann es, als er sich nochmals im Bett umdrehte, sich in einen wirren Traum verlief.
Vielleicht begann es, als der Schwarm der Kraniche dicht über seinem Haus flog, mit krächzendem Ruf schrie, er solle endlich aus dem Bett raus, seinen Tag in Schwung bringen. Er stand auf und fühlte es gleich, etwas war anders. Ja, vielleicht begann es damit. Es könnte aber auch anders begonnen haben.
Vielleicht begann es, als er mit dem falschen Bein aus dem Bett stieg, sein Hemd suchte, die Strümpfe Löcher hatten. Vielleicht begann es, als er das Frühstück vorbereitete, der Brotkasten leer, das Besteck nicht da war. Vielleicht begann es, als der Kaffee zu stark, die Milch sauer, die Medizin bitter schmeckte. Er setzte sich an den Küchentisch, spürte es wieder. Alles war anders, so unbegreiflich nicht greifbar. Ja, vielleicht begann es so. Aber…
vielleicht begann es, als der Fernseher den ganzen Tag lief, der Hund sich verscheckte, das Wetter nicht besser werden wollte. Vielleicht begann es, als er auf dem Beifahrersitz saß, den Zündschlüssel suchte und ein Eis aß. Vielleicht begann es, als ihm der Weg zum Friseur so lang vorkam, der Lautstärkeregler am Radio bauf einmal fehlte. Er suchte Hilfe in Keller, aber da war keiner. Ja, vielleicht begann es so. Doch wann begann das?
Vielleicht als der Sommer zu trocken, der Winter zu lang war, als er den Frühling verpasste und den Herbst vermisste, als er im Garten Birnen mit Äpfeln verglich, er die Schaukel für die Enkel zersägte und sich in den Finger schnitt.
Er setzte sich ins Gras, sah in den Himmel und wunderte sich. Ja, damit könnte es begonnen haben. Aber die Mitte seines Gefühls traf das nicht ganz.
Sicher begann es, mit der Enttäuschung, keinen Morgenkuss mehr zu bekommen, oder als die Post sein Haus nicht mehr fand, er seinen Augen nicht traute, seine Schrift nicht lesen konnte. Vielleicht begann es mit einer Erinnerung, die aufblitzte.
Vor 7 Jahren hatte sie ihn verlassen, war sie vor ihm gegangen, vor 7 Jahren war das.
Vielleicht hatte es da begonnen, er weiß es nicht.
Es begann etwas später, als er seinen Namen ganz langsam verlor,
… vielleicht … ja, vielleicht …
Spaziergang
Ich freue mich jeden Tag über sie.
Fast immer zu gleichen Tageszeit geht sie durch die Straße an unserem Haus vorbei.
Betagt wie sie ist, läuft sie doch orientiert den Weg entlang, kennt Häuser, Vorgärten und Ecken, bleibt ab und zu stehen, sieht sich um, dreht sich wieder nach vorne, um dann nochmals hinter sich zu gucken. Nein, dement ist sie nicht, sodass sie nicht weiß, was sie tut. Im Gegenteil, immer aufmerksam und ohne Hektik vergewissert sie sich mit ihren dunkelbraunen Augen, dass sie keinem im Wege steht oder wo ihr Begleiter bleibt.
Mein Nachbar ist es, der als ihr Begleiter, in ähnlicher Ruhe wie sie jeden Nachmittag die Spaziergänge mitmacht. Alle aus unserer Straße kennen und mögen die beiden, er um einiges größer als sie, sagt Sommer wie Winter, na komm, lass uns gehen, das tut uns gut.
Als unser Nachbar vor Jahren hierhin zog, war sechs Monate später auch sie in der Straße zu sehen. Ich konnte miterleben, wie beide sich anfreundeten, zusammen die neue Umgebung erkundeten und irgendwann die Nachmittagszeit für regelmäßige Spaziergänge fest einplanten. Mit der Zeit sind für meinen Nachbarn diese Spaziergänge um so wichtiger geworden, je mehr die Monate die Würde seines und ihres Alters unterstreichen, je weiter das Jahr fortschreitet, die Jahreszeiten den Park verändern.
Der Park ist ihr Ziel, jeden Tag spazieren sie dorthin und wieder zurück, ein Zweistunden-Ritual, das ihnen nicht langweilig wird. Aus seiner und ihrer Erfahrung heraus verläuft bei einem Spaziergang alles so, wie beide es brauchen, wie es ihnen recht ist. Bekanntes wird täglich neu entdeckt, Fremdes mit Neugierde gesehen oder beobachtet, immer mit einem Blick zum Wetterhimmel.
Oft schon bin ich mitgelaufen, habe erlebt, wie der tägliche Spaziergang ihre Verbundenheit, ihr Aufeinander-Bezogensein zeigt, haben sie doch alle Zeit der Welt, wenn sie eine Weile und länger am Eingang zum Park verweilen. Von jeglichen Sachzwängen befreit sind sie einander der Rahmen für diesen und den nächsten Augenblick, grenzen sie den Moment ein bis zum Weiterziehen, bis zum Einzug in den Park. Im Park sind sie nie allein, man kennt die beiden. Zwar weiß keiner genau ihre Namen, noch werden beide mit `du´ angesprochen, aber einer ohne den anderen ist undenkbar, ihr verlässlicher Besuch im Park ist für viele etwas Beständiges im Alltag.
Auf ihrem Parkrundgang grüßen beide die jungen Mütter mit den Kleinen und Kleinsten, begutachten die Grünanlagen, nicken den älteren Bewohner von Haus Nr. 5 und 9 zu, bewundern die Blumenfelder, nicken den MitspielerInnen der Boule-Runde zu, schauen im Sommer am Wassergraben auf die Höhe der Fontaine oder scheinen mitaufzupassen, wenn die Auflugsgruppe der Kita am Wasser spielt. Besonders ihr gefällt das Spiel der Kinder, und sie erinnert sich daran, früher manchmal mitgespielt zu haben. Alle, die man so treffen kann, sind ihnen wert, begrüßt zu werden, und das tun beide auf ihre ganz persönliche Art und Weise, jeden Tag.
Sonntags gibt es nach Möglichkeit eine größere Pause, da setzen sie sich ins kleine Parkcafé für einen Milchkaffee, ein Wasser und zwei Keks, lassen der Zeit ihre Zeit und sich selbst die Gelassenheit, die sie so schätzen. Zum Ende ihres Spaziergangs umrunden sie den Pavillon eines stadtbekannten Künstlers, treten den Rückweg an, nehmen frische Luft, die blaue oder trübe Himmelsfarbe, zwei Kastanien oder welke Ahornblätter mit nach Haus.
Mein Nachbar und sie reden nicht viel unterwegs, nur ab und zu kann man erkennen, wie nahe die beiden sich sind. Wenn er spricht, bleibt er meist stehen, sieht sie an, und als sei ihr nichts wichtiger als seine Worte, bleibt auch sie stehen. Ich kann nicht sagen, ob die Worte ihr gelten oder dem Wetter, doch das ist nicht wichtig. Mir scheint, sie hört gern seine Stimme, viele Jahre schon liegt dieser Ton in ihrem Ohr, aus hunderten Stimmen würde sie seine unverfälscht frohe Stimme heraushören. Besonders wenn er ihren Namen ruft, sieht sie zu ihm auf, unvermittelt klar erhält er ihre Antwort, dann lächelt er und beide ziehen weiter. Verstehen pur, blindes Vertrauen über die Jahre hinweg, allen Unterschieden der beiden zum Trotz.
Seit drei Wochen, besonders bei schlechtem Wetter kommt es mir so vor, als gehe sie nicht mehr gerne raus, da will sie nicht weiter als bis an die Türschwelle, nein, da sträubt sie sich. Dann sieht mein Nachbar sie an, pflichtet ihr nickend bei, streichelt ihren Rücken, führt sie zurück ins Haus und schließt die Tür hinter ihnen. Viele in unserer Straße sind älter geworden, einige sind weggezogen, neue Menschen kamen hierher, doch ohne meinen Nachbarn und sie kann ich mir das Leben in unserer Straße kaum vorstellen, sie gehören dazu.
Heute regnet es und mein Nachbar geht allein spazieren, geht an unserem Haus vorbei die Straße entlang, geht in den Park, kehrt wieder heim. Er ist traurig, sie ist nicht mitgegangen, sie musste vom Tierarzt eingeschläfert werden, Miss Sofie ist jetzt im Hundehimmel.
Wesentlich werden
Ich verlasse mein Haus, stelle meinen Fuß quer zum Strom wie der Gewohnheit ein Bein, suche den Duft des Frühlings für die Furt durch den Alltag, finde Gedankenlücken zwischen den Bindungen der Vertrautheit und nehme mir Zeit. Die Palette meines Bemühens, vor Zeiten für meine Zeiten zusammengestellt, mischt hin und wieder Grün und Rot mit Grau. Es ist kein tiefes Grau, aber es regt an, dem Treidelpfad der Jahre zu folgen, um das Blau mit dem Wind der guten Tage aus den Angeln zu heben.
Wäsche waschen, Mülltrennung oder Kuchenbacken helfen mir, Flausen sowie vergebliche Träume aus dem Kopf zu schlagen. Es sind nicht mehr viele, die verbleibenden rücken mit jedem Frühling weiter, ohne Gewinn, an Los vorbei, zur Tür hinaus, so bleibt Raum zum Atmen. Begleiten und Zuhören sind von besonderer Güte, wenn ich auf dem Laufenden bleiben möchte, denn Umarmungen ohne Klammern geben meiner Familie Freiheit und mir innere Stärke.
Weiß der Himmel nicht weiter, weil tagsüber Hoch und Tief sich nicht einig sind, fällt Ende des Monats das Bier in der Kneipe aus, weil Bedarfseinkauf statt Belohnungskonsum angezeigt ist, denke ich an meinen Vater. Er vertraute mir das Geheimnis von Zufriedenheit an: Gib der Dankbarkeit in deinen vier Wänden ein Zuhause. Wenn in den Medien Nebenschauplätze viel Raum beanspruchen, die Dummheit Aufmerksamkeit erhält, suche ich die Mitte, kenne ich doch viele Gründe zum Lachen auswendig, nur will die Tagesmelodie nicht immer so, wie ich meine, dass sie klingen soll. Dann sagt der Gärtner: Sei geduldig, alles wird sich finden.
Und mittendrin verabreden sich seit einiger Zeit Meeresrauschen und Spatzengezwitscher, bieten mir das Lied „Wesentlich werden“ in drei Strophen mit Refrain als Ohrwurm an. Da wundert es niemanden, dass ich drei Tränen dazu weine,
denn mir wird immer etwas schwindelig, wenn das Blatt sich wendet.
Ich weiß es schon lange, das Eselsohr bedauern, im Kaffeesatz lesen oder das Haar in der Suppe finden, ändert nichts an meiner älterwerdenden Haut, und jedes Jahr im Juli feiern weitere Falten meinen Geburtstag, erzählen angeregt vom gelebten Jahr und
amüsieren sich über die Märchen der Gesichtscreme-Werbung.
Geschenkt und geliebt in Tagebüchern und Fotoalben steckt meine Vergangenheit, ihr Dasein ohne Bleiberecht stromert in meinen Erinnerungen, doch Rückwärtsschauen ist keine christliche Tugend, sagt mein priesterlicher Freund.
Durch den Ohrwurm im Herzen beruhigt, habe ich dem Zug der Kraniche versprochen, den Veränderungen kommender Zeiten nicht im Weg, nicht bei Fuß zu stehen, aber immer mit beiden Beinen auf dem Grund meines Glaubens. Der Vorrat meiner Jahre wird sich leeren, doch behält und bewegt mein Herz den Taufsegen.
Was ich meiner Welt gebe, dass sie der Ort bleibt, in dem ich leben will?
Es ist das feste Vertrauen, dass niemand die Fahne hissen muss, der das Gute und Echte nach seinen Möglichkeiten, nach seinem Gewissen zu erfüllen sucht.
Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
(c) Maria Lange-Otto